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18. Dezember 2011 7 18 /12 /Dezember /2011 10:54
ANATOMIE Die Wissenschaft des Handlesens

Was die Fingerlängen eines Menschen über seine Persönlichkeit und die körperliche Verfassung verraten

Giacomo Casanova (1725 bis 1798) plauderte gern über seine Fingerlängen und sah sich gut bestückt: »Meine Hand ist so geformt wie die aller Abkömmlinge Adams – der Zeigefinger ist kürzer als der Ringfinger.« Neuere Ergebnisse der Humanforschung legen einen diskreteren Umgang mit den Fingerlängen nahe. Angeblich verraten sie Eigenschaften wie Aggressivität, homosexuelle Neigungen oder Anfälligkeit für Herzkrankheiten.

Casanovas Beobachtung wurde von Anatomen und Anthropologen eifrig geprüft. Tatsächlich überragt bei den meisten Männern der Ringfinger den Zeigefinger, während bei Frauen beide Finger oft gleich lang sind. Andere geschlechtsspezifische Merkmale waren allerdings für die Forscher lange Zeit aufregender als geringe Differenzen in der Fingerlänge. Bis vor neun Jahren der englische Anthropologe John Manning einen überraschenden Zusammenhang entdeckte: Je länger bei Männern der Ringfinger im Verhältnis zum Zeigefinger, desto mehr Spermien produzieren die Hoden. Nur eine kuriose Laune der Natur? Als Ursache des Zusammenhangs identifiziert Manning vorgeburtliche Sexualhormone. Sie beeinflussen während der Schwangerschaft das Wachstum des Fötus, seiner Finger und Keimdrüsen.

Wie aber können wenige Millimeter Fingerlängenunterschied bei Erwachsenen jene hormonellen Bedingungen anzeigen, die sie im Mutterleib prägten? »Entscheidend ist, dass die Längenverhältnisse schon vor der Geburt feststehen und sich im Lauf des Lebens nicht mehr wesentlich ändern«, erklärt Manning. Im Mutterleib werde das Wachstum des Ringfingers vom (männlichen) Sexualhormon Testosteron gefördert und das Wachstum des Zeigefingers von Östrogenen. Das Verhältnis der Fingerlängen wäre demnach ein Indikator für den jeweiligen Hormonmix, der den Fötus geschlechtsspezifisch prägt. Viel Testosteron etwa vermännlicht Körper und Gehirnschaltkreise des Fötus. Der Mix aus Testosteron und Östrogenen bestimmt, ob sich ein Penis oder eine Vagina ausbildet und ob das Wachstum der rechten Hirnhälfte auf Kosten der linken gefördert wird.

Aber so bedeutsam vorgeburtliche Hormonwirkungen sind – sie blieben rätselhaft. Denn wer Hormonmengen direkt im Fruchtwasser messen will, riskiert eine Fehlgeburt. Auf einen einfach zugänglichen Indikator wie das Fingerlängenverhältnis hatten Humanforscher nur gewartet. Doch wie verlässlich sind die Daten?

Am besten belegt ist der Zusammenhang von Fingerlängen und sportlicher Leistungsfähigkeit. Hier zeigt sich, dass erfolgreiche Schwimmer, Sprinter, Fußballer, Skifahrer und Fechter im Schnitt längere Ringfinger haben als erfolglose oder Nichtsportler. Bei einem Wettrennen sollte Fingerforscher Manning aus den Fingerlängen lesen, in welcher Reihenfolge fünf Läufer das Ziel erreichen. Seine Vorhersage war fast perfekt – nur Platz 3 und 4 waren vertauscht. Ein Erlebnis hat den fußballbegeisterten Manning jedoch am meisten beeindruckt: Auf einer Gala mit Sportlegenden begegnete er den Fußballstars seiner Kindheit und entdeckte, dass einige »unglaublich lange Ringfinger« hatten.

Die Ergebnisse zur sexuellen Orientierung widersprechen sich

Lässt sich also an zwei Fingern abzählen, wie sportlich und fit, aggressiv, sexuell aktiv, fruchtbar, hetero- oder homosexuell, attraktiv, sensationshungrig, neurotisch, musikalisch, mathematisch begabt und selbstbewusst jemand ist? Ob er gar zu Autismus neigt, Schizophrenie, Depression, Leseschwäche, Stottern, Herzinfarkt und Brustkrebs?

Ulrich Frey, Philosoph und Experte für Fehler in den Wissenschaften, ist skeptisch: »Es ist immer verdächtig, wenn eine neue Theorie alles erklären kann. Der Karriere wegen müssen Forscher möglichst viele neue Ergebnisse publizieren. Von anfangs bombensicheren Zusammenhängen bleiben aber meist nur wenige, schwache übrig.« Oft spitzen auch Medienberichte vielschichtige Forschungsergebnisse zu. Menschen mit längerem Ringfinger seien aggressiver. Ein besonders langer Ringfinger lasse auf Homosexualität schließen. Einen Zusammenhang mit Aggressivität fanden die Studien aber entweder nur bei Frauen oder nur bei Männern und abhängig davon, wie aggressives Verhalten gemessen wurde. Die Ergebnisse zur sexuellen Orientierung widersprechen sich sogar. Je nach Studie und Geschlechterrolle der Untersuchten finden sich bei Schwulen und Lesben längere oder kürzere Ringfinger als bei Heteros. Ein Großteil der positiven Untersuchungen stamme aus nur einem Labor, lautet der Vorwurf in einem Überblicksartikel. Bekannt ist, dass Negativstudien, die keine Zusammenhänge finden, kaum Chancen haben, publiziert zu werden. Problematisch ist zudem, dass die Fingerlängen mal an der rechten, mal an der linken Hand bestimmt werden und manchmal der Mittelwert oder die Differenz beider Hände.

Widersprüche erklärt Pionier Manning gern mit falschen Messmethoden: »Ich wäre viel glücklicher, würde die Fingerlänge richtig gemessen – direkt am Subjekt. Umrisszeichnungen der Hand zu verwenden ist einfach Blödsinn.«

Wie tragfähig aber ist das Fundament der Fingerforschung? Thomas Rammsayer, Psychologe an der Universität Bern, erforscht Geschlechterunterschiede und könnte einen Indikator für die vorgeburtliche Prägung durch Sexualhormone gut gebrauchen. »Ich sehe noch immer keine Beweise dafür, dass Fingerlängen von Testosteron oder Östrogenen bestimmt werden. Die Wirkmechanismen sind komplexer.«

Komplexer und sehr alt, älter als die ersten Urmenschen. Spezielle Gene koppelten wahrscheinlich schon vor 400 Millionen Jahren Fingerlängen und Hormone. Damals verließen die ersten Wirbeltiere das Wasser und entwickelten Anpassungen ans Landleben. Die Fortpflanzung wurde ins Körperinnere verlegt, es entstanden Geschlechtsorgane nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip. Für die Fortbewegung auf festem Grund entwickelten sich Gliedmaßen und Finger. Da die Natur sparsam ist, kodiert nur eine Gengruppe für beide Anpassungen. Die Hox-Gene steuern das Wachstum der Finger und der Geschlechtsorgane samt Hormonproduktion. Mutationen der Hox-Gene verursachen Kurzfingrigkeit und Missbildungen der Genitalien.

Aber steuern diese Gene das Fingerwachstum direkt oder nur vermittelt über Testosteron und Östrogene, die komplizierterweise auf die Genaktivität rückwirken? Manning lacht: »Das wüssten wir auch gerne.«

Am meisten verraten die Finger über das Herz-Kreislauf-System

Welche Relevanz hat nun das Längenverhältnis? Entscheidend ist nicht ein statistischer Zusammenhang zwischen Fingerlängen und einem Merkmal, sondern wie stark oder schwach der Zusammenhang ist. So lassen sich Persönlichkeitsunterschiede nur zu fünf Prozent auf die Fingerlängen zurückführen. Am stärksten ist der Zusammenhang mit sportlicher Leistungsfähigkeit, etwa der des Herz-Kreislauf-Systems – hier erklären die Fingerlängen 20 bis 30 Prozent.

Manning möchte diesen Zusammenhang für medizinische Prognosen nutzen, etwa um das Herzinfarktrisiko einzuschätzen. Auch wenn Testosteron bei vielen Krankheiten eine wichtige Rolle spielt, der Göttinger Anthropologe Bernhard Fink hat Bedenken: »Ich würde das Fingerverhältnis in keiner Weise zur individuellen Diagnostik verwenden. Das ist spannend für die Grundlagenforschung, um Populationseffekte zu untersuchen; aber die Fingerlängen sagen nichts über den einzelnen Menschen.«

 

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